Doch das ist zum Glück nicht alles, was wir über unsere Sünde und das Beten wissen müssen. Schon im Alten Testament finden wir viele Gebete, in denen sich jemand, der gesündigt hat, an Gott wendet: trotz seiner Sünde und mit seiner Sünde. So ist es in Psalm 38 und 51, ähnlich auch in Psalm 130. Wenn Jesus später von einem Sünder erzählt, der zu Gott betet, dann ist das also keine Neuerung, die erst im Neuen Testament denkbar wäre, sondern knüpft an die Bußgebete des Psalters an. Der Mann in dem Gleichnis von Jesus ist ein Zolleinnehmer, der sich seiner Schuld bewusst wird und mit nichts in der Hand vor Gott tritt, dabei Abstand hält und um Vergebung betet (Lukas 18,9-14). Dieser Beter hat Reinheit oder Heiligung nicht schon erlangt, bevor er betete. Damit stoßen wir auf einen wichtigen Grundsatz: Das Gebet ist nicht die Folge der Heiligung, sondern der Weg zur Heiligung.
All diese Beter sind Menschen, die sich ihrer Schuld bewusst sind und sie loswerden möchten. Für gleichgültige Menschen gibt es keine Verheißung zum Gebet. Wer aber von seiner Schuld betroffen ist, für den wäre es völlig falsch, Abstand zu nehmen und aufs Beten zu verzichten. Im Gegenteil: Schuld soll uns ins Gebet ziehen. Distanz ist nicht das, was Gott will. Genau dafür waren ja damals die Opfer gedacht: damit man wieder zu Gott kommt. Die Opfergabe war nicht etwas, das man als Versöhnungsgeschenk vor sich her senden musste, sondern durch diese offene Tür wollte Gott die Sünder zu sich ziehen.